Es gilt das gesprochene Wort

Frau Rektorin
Sehr geehrte Vertreterinnen und Vertreter aus Bildung, Wirtschaft, Politik und Gesellschaft
Meine Damen und Herren

Sie haben mich eingeladen, um darüber zu sprechen, was Frauen in männerdominierten Bereichen bewirken können.

Und dies vor dem Hintergrund, dass wir heute die Errungenschaften von Anna Tumarkin feiern.

Anna Tumarkin hat in Philosophie promoviert. Wie Sie wissen, bin ich keine Philosophin, sondern Juristin und Politikerin.

Was Philosophinnen und Politikerinnen aber sicherlich gemeinsam haben, sind die Berge aus Papier, durch die wir uns täglich arbeiten - und dass am Schluss doch noch viele Fragen offenbleiben, über die wir uns den Kopf zerbrechen.

Mir passiert es manchmal, dass mein Blick zum Fenster hinausschweift, von den Bergen aus Papier auf die Berge aus Gestein.

Bei schönem Wetter sehe ich vom Bundeshaus aus Eiger, Mönch und Jungfrau, das Schreckhorn und das Wetterhorn.

Ich erinnere mich gut daran, dass ich hie und da den Wunsch verspürt habe, auf der Gletscherkappe eines dieser fernen Berge zu stehen, statt hinter meinem Fenster.

Woran ich mich hingegen weniger gut erinnere, sind die Papiere, die ich dabei gelesen habe.

Eines ist jedoch interessant.

Selbst wenn ich Sie in meinem Büro genau da platzieren würde, wo ich jeweils stehe, in Ihrem Rücken die hohen Papierberge und vor Ihnen das Fenster, würden einige von Ihnen eine völlig andere Szenerie beschreiben - möglicherweise würden Ihnen die Vögel in den Baumkronen auffallen, die Farbe der Aare oder die Menschen auf der Bundesterrasse.

Denn Ihre Perspektive ist eine andere als meine, die Sicht von Philosophinnen ist eine andere als die Sicht von Politikerinnen, und die Sicht der Frauen ist eine andere als die Sicht der Männer.

Und das ist so, obwohl sich uns allen der gleiche Bildausschnitt zeigt.

Und nun zur Frage, was Frauen in männerdominierten Bereichen bewirken können: Sie können bewirken, dass es keine männerbesetzten Domänen bleiben.

Sie können bewirken, dass auch ihre Perspektiven – und ich spreche hier bewusst in der Mehrzahl – dort vertreten sind.

Man vergleiche den Frauenanteil an Schweizer Universitäten und im nationalen Parlament vor 100 Jahren mit dem heutigen Stand:

Die Geschichte lehrt uns, dass unbeirrbare Frauen solche Veränderungen lostreten können.

Doch es braucht immer die eine, die es zum ersten Mal macht.

1909 war es Anna Tumarkin, die als erste Frau auf regulärem Weg hier an der Uni Bern Professorin wurde, und dies ungeachtet der Widrigkeiten.

1971, im Jahr, in dem das Stimm- und Wahlrecht für Frauen in der Schweiz eingeführt wurde, wurden zum ersten Mal Frauen in den Nationalrat gewählt.

Darunter Elisabeth Blunschy-Steiner, die 1977 als erste Frau Nationalratspräsidentin wurde und Lilian Uchtenhagen, die 1983 als erste Frau für den Bundesrat nominiert wurde.

Die Bundesversammlung wählte statt ihrer allerdings einen wilden Kandidaten, ihren SP-Parteikollegen Otto Stich.

Ein Jahr später wurde dann Elisabeth Kopp als erste Frau in den Bundesrat gewählt. Die Umstände, die später zu ihrem Rücktritt geführt haben, bleiben bis heute ein prägendes Kapitel der Schweizer Politik.

Und noch ein Beispiel aus einer Organisation, der ich aktuell sehr nahestehe: Germaine Seewer wurde 2020 die erste Divisionärin der Schweizer Armee.

Im Jahr 2018 wurde ich die erste Verteidigungsministerin der Schweiz.

Und letztes Jahr wurde mit Virginia Richter fast 200 Jahre nach der Gründung der Universität Bern zum ersten Mal eine Frau zur Rektorin gewählt.

Meine Damen und Herren

Ist es nicht bedrückend, dass es heute immer noch diese ersten Male gibt?

Zumal die Leistung als erste Frau oft besonders herausragend sein muss, damit sie sich behaupten kann.

Die Erfahrung zeigt, dass Frauen in Männerdomänen exponierter sind, kritisch beäugt werden, und plötzlich sind sie «die Frau», die repräsentativ für alle Frauen steht.

Wer sich da behaupten will, muss das durch Standhaftigkeit machen, und unbeirrbar sein.

Als Elisabeth Kopp im Nationalratssaal nach vorne ging, um die Annahme ihrer Wahl zu erklären, soll sie sich gesagt haben:

«Du musst es in jeder Beziehung so gut machen, dass keiner mehr sagen kann, Frauen könnten das nicht.»

Das ist meines Erachtens keine Ebenbürtigkeit.

Als eine der ersten Frauen an der Spitze einer Walliser Stadt wurden diese althergebrachten Muster und Widerstände für mich eine Lebensschule.

Ich sage heute gerne: Wer als Frau im Wallis gelernt hat, zu politisieren, ist mit allen Wassern gewaschen.

Meine Damen und Herren

Wenn eine Frau eine Barriere durchbricht, mag sie eine Veränderung lostreten.

Der Wandel erfolgt aber nicht über die individuelle Leistung, sondern ist abhängig von einem gesellschaftlichen Umdenken.

Denn eine einzelne Frauenstimme vermag nicht die die Vielfalt aller weiblicher Perspektiven zu vertreten, und es wäre auch eine zu grosse Bürde, das von ihr zu verlangen.

Somit bleiben Frauen in Männerdomänen so lange ein wichtiges Thema, wie Simone de Beauvoirs Bon Mot noch zutrifft: «Man wird nicht als Frau geboren, man wird zur Frau gemacht.»

Mit jeder „ersten Frau“ in einer neuen Rolle bevölkern wir die innere Vorstellungswelt mit einem neuen Bild davon, was Frauen sein und erreichen können.

Es freut mich besonders zu beobachten, wie Frauen mit Mut und Tatkraft nicht nur immer mehr in sogenannte Männerdomänen vordringen, sondern diese nach und nach abschaffen.

Die ersten, die zweiten, die dritten – und all die folgenden Frauen – rücken dabei eine schlichte, aber wesentliche Wahrheit ins Zentrum: Kompetenz hat nichts mit Geschlecht zu tun.

Vielen Dank.

«Die Geschichte lehrt uns, dass unbeirrbare Frauen Veränderungen lostreten können»